Der Literatur-und-Theater-Kurs spielt Tucholsky
Am 21. und 22. Juni schickte die sechzehnköpfige Mannschaft des Literatur-und-Theater-Kurses des HöGy Zuschauende auf eine Reise in eine erschreckend aktuelle Vergangenheit, auf einen wohlbekannt-unbekannten Kontinenten und für anderthalb Stunden in einen Zustand größten Amüsements.
In unaufgeregter Beschaulichkeit ob seines Lebenswerks besucht Admiral Christoph Kolumbus (gespielt von der präsenten Helena Jooss) seine Stammkneipe, wo diesmal eine Person wartet, die vom Heldentum des Entdeckers überzeugt ist: Amerigo Vespucci. Um den späteren Namensgeber des Kontinenten im Westen von der Banalität des gesamten Unterfangens „Seeweg nach Indien“ zu überzeugen, eröffnet Kolumbus seine Sicht auf die Geschichte und die Binnenerzählung beginnt.
Im Spanien des auslaufenden 15. Jahrhunderts hat die Reconquista die letzten Goldreserven aufgebraucht. Da kommt der Träumer Kolumbus gerade recht, der von der Kugelgestalt der Erde überzeugt ist und deswegen Pläne für einen neuen Seeweg nach Indien erstellt hat. Während die Königin sein Unternehmen stützt, werden hinter Kolumbus‘ Rücken längst Pläne geschmiedet, um ihn um den verdienten Ruhm zu bringen und die neuen Reichtümer zu verteilen. Selbst die katholische Kirche findet Kolumbus‘ Idee eines runden Erdballs plötzlich recht einleuchtend.
Gabriela Janisch, Luis Oßwald und Paul Holler verkörpern dabei überzeugend das Tribunal aus Ignoranz, Konsum und Macht. Hirn hinter den Plänen ist ein feistes intrigant-emsiges Männchen, das Kolumbus zur Seite gestellt wird: der Finanzbeamte Vendrino, entzückend dargeboten durch Lara Marie Schmid.
Beim Packen für die große Fahrt beeindruckt Junlei Wu als Kolumbus‘ Diener Pepi, indem er die Tücke der Dinge als zunehmend Betrunkener ideal ausspielt. Während des entbehrungsreichen Seewegs unternimmt die gebeutelte Besatzung einen Meutereiversuch, der weniger an clownesken Verwechslungen des ausgesandten Matrosen (Johanna Henzler) scheitert, sondern an der Tatsache, dass doch „Land in Sicht!“ ist. Nach 70 Tagen erreicht die „Santa Maria“ 1492 endlich die neue Welt, in der vieles aus der alten Welt als überholt gilt, etwa Waffen, Krieg, Geld und Uniformen. Die Eingeborenen rauchen Shisha, arbeiten wenig, spielen viel… und tanzen. Leonie Wagner performt als emanzipierte Eingeborene einen Schlafanzug-Auszug-Tanz, der nicht nur Kolumbus beeindruckt. Zurück in der Heimat ist vor allem die Kolonialware „Kartoffel“ ein Hit, für die sich der hafermilchtrinkende König (Maximilian Mühlhause) begeistern lässt.
Amerigo Vespucci lässt schließlich seinen Roman signieren. Kolumbus widmet ihm die Weisheit „Der Erste ist immer der Dumme.“ Am Schluss der Inszenierung vergeht einem doch das Lachen. Der grüne Captain India, der die ganze Inszenierung über als Plakatfigur präsent war und zunehmend dekonstruiert wurde, fällt vollständig und wird durch Marvels Captain America ersetzt. Höhnisch wirken die Lobgesänge auf das Land, das Kolumbus entdeckte, während im Hintergrund reale Schreckensbilder dieses Landes – der USA – laufen: Sturm auf das Kapitol in Washington, Einsturz des World-Trade-Centers, Kriegsszenen, klimatisch bedingte Umweltkatastrophen.
Als das Stück Christoph Kolumbus oder die Entdeckung Amerikas, wie die Komödie von Walter Hasenclever und Kurt Tucholsky mit vollem Titel heißt, 1932 in Leipzig Premiere feierte, kam es zu tumultartigen Szenen und das Stück wurde später von den Nationalsozialisten wegen der demokratischen, pazifistischen und antimilitaristischen Inhalte verboten. Auch heute bietet das Werk ein hohes Potenzial, gesellschaftliche Entwicklungen zu hinterfragen. In der Inszenierung des Hölderlin-Gymnasiums wurden neben dem medialen Ende viele, teils augenzwinkernde, Verweise auf unsere Gegenwart erzielt, sei es durch Anachronismen, Kleidungsstücke oder die Einbeziehung der Schulleiterin Frau Beate Selb.
Diese hatte am Ende ein großes Lob auszusprechen: neben den SchauspielerInnen (in weiteren Rollen: Klara Riedel, Nora Veress, Nicola Hummel (kurzfristig eingesprungen für die erkrankte Leonie Winger), Lilu Hörz, Katharina Albertin, Selina Böhm) zudem an das engagierte Technik-Team des Technik-AKs der HöGy-SMV und natürlich den Regisseur und Leiter des Kurses, Lehrer Tobias Flick. Diesem wurde von den SchülerInnen am Ende mit großem Dank ein Oscar verliehen.
„Gegen einen Ozean pfeift man nicht an“, meinte der pessimistisch gewordene Tucholsky im Blick auf Deutschland 1933, doch hat er wohl das Pfeifen seines Stücks unterschätzt, das fast neunzig Jahre nachklingt und heute noch junge Menschen prägt. Gepfiffen wurde indes am HöGy nicht – das Publikum feierte die Beteiligten viel eher mit langanhaltendem, herzlichem Applaus.
Damaris Raiser