Die Klasse 10d hat einen kleinen, internen Kurzgeschichtenwettbewerb im Fach Deutsch veranstaltet. Ausgangspunkt waren Gewinnerfotos des diesjährigen World Press Foto Contest, die gegenwärtige Probleme wie etwa Konflikte oder Umweltkatastrophen auf verschiedenen Kontinenten aufgreifen und somit auch einen tolle Erzählanlässe bieten. Aufgabe der SchülerInnen war es, die Personen auf dem Bild zum Leben zu erwecken, die Hintergründe des jeweiligen Fotos zu recherchieren und zu verarbeiten und alles zu einer spannenden Geschichte zu verweben.
Die Gewinnergeschichten stammen von:
Eine albtraumhafte Nacht
Durch das Fenster gegenüber des Bettes fiel noch kein Licht. Lilja wachte auf, aus dem Schlaf gejagt durch ein unangenehmes Gefühl. Sie setzte sich auf, die Augen weit aufgerissen, doch sehen konnte sie nur bis zu ihrem Stoffhasen im roten Kleid, der über Nacht irgendwie an ihr Bettende gelangt war. Sie starrte in die Dunkelheit und lauschte der Stille. Irgendetwas war nicht ganz richtig. Sie schloss die Augen. Kein großer Unterschied, wie die Augen offen zu halten, alles war dunkel. Ihr war mulmig. Da war so ein Geräusch. Ein leises Grummeln und Knarzen, als grabe sich etwas durch den Boden und die Wände. Das Geräusch wurde lauter, intensiver. Es schlängelte sich durch Wand, Decke und Boden. Plötzlich knackte es neben ihr in der Wand. Das Geräusch klang, als zerbräche man eine Karotte, ganz langsam. Lilja kauerte sich im Bett zusammen. Sie machte die Augen noch fester zu, verängstigt von den Geräuschen. Diese wurden jedoch immer lauter, saßen tief in den Wänden. Plötzlich bildete sich ein Riss im Boden, ein lautes Knacken durchfuhr den Raum. Lilja schrie vor Schreck auf, rannte aus ihrem Zimmer und in den Gang, wo sie ihren Eltern entgegenkam, die Augen vor Furcht weit aufgerissen und eine Öllampe in der Hand haltend. Gemeinsam rannten sie aus dem Haus, während ein ohrenbetäubendes Knacken vom Gemäuer zu kommen schien. Gerade als sie die Türschwelle übertraten, war ein dumpfer, trotzdem tosender Knall von tief im Boden zu vernehmen. Der feuchte, leicht aufgetaute Boden fing an zu beben, das Haus zitterte. Lilja klammerte sich fest an ihre Eltern. Wie sie so in der Kälte standen, war die Müdigkeit komplett verschwunden. Nachdem sich das Gegrummel und Geknarze gelegt hatte, schaute die Sonne gerade über den Horizont, sodass das Zwielicht das Areal genug ausleuchtete, um den Albtraum zu enthüllen. Die Fassade war durchzogen von kleinen Rissen und an ein paar Stellen fehlten große Brocken Putz. Viele Fenster hatten Risse und manche waren sogar zersprungen. Im Flur war es ähnlich. Die Wände waren durchzogen von Rissen so dünn wie Äderchen, und hin und wieder Löchern so groß wie Tennisbälle. Als Lilja zu ihrem Zimmer kam, stockte ihr der Atem. Ein baumähnlicher Riss schlängelte sich von der Decke über die Wand bis zum Boden und war an den breitesten Stellen wadenbreit. Überall lag Schutt auf dem Boden, das Bett war mit Staub überzogen. Das Kleid ihres Stoffhasen war nicht mehr rot, sondern mausegrau. Während sie sich auf dem Boden zusammenkauerte, hörte sie ihre Mutter von unten rufen: „Lilja, nimm nen Besen und hilf!“
Damit er uns finden kann
Die Sonne war schon untergegangen. Diese Gegend war ihm unbekannt. Er lief weiter, vorbei an den letzten noch stehenden Gebäuden der Stadt.
„Wo bist du bloß?“, murmelte er vor sich hin, während er auf den Schutt unter seinen Füßen starrte. Die Ruinen, alles sah so leblos aus – bis er weit vor sich eine Gruppe Menschen entdeckte. Manche waren älter als er, manche noch sehr jung. Sie saßen im Kreis unter einem Dach aus Decken, die auf Balken gestützt waren. Sie sahen erschöpft und zugleich erleichtert aus. Manche hielten kleine palästinensische Flaggen in den Händen.
Als die Menschen auf ihn aufmerksam wurden, wurden sie unruhig. Skeptisch blickten sie ihm entgegen. Als er dem Unterschlupf näher kam, erkannten sie jedoch sein junges Alter und entspannten sich.
„Hi, wer bist du?“, kam es von zwei etwas älteren Jungen, die jeweils eine Flagge hielten. „Willst du dich zu uns setzen? Du siehst durstig aus.“
„Ich bin Ali“, sagte er leise, als er sich auf den sandigen Boden setzte. Sein Blick führte zu einer Schachtel Kerzen, die versteckt unter dem Schutt neben ihm herausragten. „Solche Kerzen hat mein Bruder immer für mich angezündet, wenn ich nachts Angst hatte. Angst, ihn im Dunkeln auch noch zu verlieren.“ Er zog die Schachtel unter den Steinen hervor.
„Wo ist denn dein Bruder jetzt?“, fragte ein sehr kleiner Junge, der ihm gegenübersaß.
„Es ging alles sehr schnell. Mein Bruder fand endlich ein Häuschen, das noch nicht zerstört war. Irgendwann kamen dann Männer und er sagte ich soll drinnen auf ihn warten. Er hat gesagt, er würde es klären und dann“, seine Stimme wurde zittriger, „wieder zu mir zurückkommen.“
„Wie lange ist er schon weg?“, wollten die Jungen wissen.
„Ach, ein paar Tage“, antwortete Ali. Daraufhin schwieg er. Keiner der Jungen sprach mehr, bestimmt für fünf Minuten nicht. Ein Mann, den Ali bisher noch nicht bemerkt hatte, weil er so weit hinten saß und den Kopf bisher nur nach unten gerichtet hatte, schaute ihn jetzt mitfühlend an und kramte in seiner Tasche.
„Schau mal, ich hab ein Feuerzeug“, sagte der Mann und zog es heraus. „Lass uns zusammen die Kerzen anzünden und an deinen Bruder, und jeden der in diesem Krieg verloren ging, denken.“
Alis Augen leuchteten: „Damit er uns finden kann, natürlich!“
Der Mann seufzte auf und sagte dann: „Von irgendwoher wird er das Licht schon sehen und wissen, dass du an ihn denkst, so viel ist sicher.“
Ali hörte gar nicht richtig zu, sondern schnappte sich nur schnell eine Kerze und stand auf. Alle folgten ihm und entzündeten ihre Kerze an dem Feuerzeug des Mannes. Manche hielten sie in der Hand, manche stellten sie auf einen Tisch in der Mitte, der aus zwei großen Steinen und einer Holzplatte bestand. So saßen sie da, die ganze Nacht und ohne Worte.
Manche in Trauer, manche in Hoffnung.
Anders
Er war einer von ihnen. Er stand in der Gruppe und schaute sich immer wieder nervös um. Wie die anderen auch, trug er nur eine Jeans und Schuhe. Sein Oberkörper und sein Gesicht waren bemalt. Der Blick misstrauisch. Alle warteten sie in der Schlange auf ihren Flug. Sie wollten heim. Wieder in ihre Welt. Doch es stand noch jemand bei ihnen. Ein Mann mit einer Kamera. Er hatte sie die ganze Zeit schon begleitet. Immer wieder machte er Fotos. Mal von einem, mal von der ganzen Gruppe. Als er ihn fotografieren wollte, trat der junge Mann aus der Gruppe auf den Fotografen zu. Die Hand am Gürtel. „Was willst du von uns? Wieso verfolgst du uns die ganze Zeit? Seit wir in Brasilia angekommen sind, hast du uns keine Ruhe gelassen. Immer wieder hast du deine Maschine rausgeholt und da reingeschaut. Ständig. Was soll das?“ Sichtlich geschockt und verängstigt stotterte der Fotograf: „I…ich, ich bin Fotograf. Ich mache Aufnahmen, also Bilder von euch, um der Welt zu zeigen was hier passiert. Man begegnet nicht täglich einer Gruppe Indigene, die für einen Protest in die Hauptstadt reisen. Es ist spannend mal so ganz andere Menschen zu begleiten.“ Der Fotograf beruhigte sich langsam, doch nun konnte man in seinem Gegenüber sichtlich die Wut aufkochen sehen. „Nur weil wir anders sind, verfolgst du uns?! Dürfen wir etwa nicht auch mal unseren Wald verlassen und unseren Freunden helfen? Oder es wenigstens versuchen?“ „Doch, doch!“, entgegnete der Fotograf nervös. „Das hab ich nicht gesagt. Ihr seid halt bloß so anders. Ihr tragt eure traditionelle Kleidung und zieht die modernsten Koffer hinter euch her.“ Der Fotograf lächelte gekünstelt, doch das machten seinen Gesprächspartner umso wütender. Seine Hand umschloss nun den Griff eines Messers, das im Gürtel steckte. „Es ist also, weil wir anders sind! Wir sind nicht normal genug! Du hättest es wohl gerne, dass wir Taschen aus Blättern haben, oder wie? Ich sag dir eins: Auch wir dürfen nutzen was praktisch ist.“ Er holte Luft und redete weiter. „Wir sind anders, ja schön. Aber muss das wirklich die ganze Welt sehen? Das wissen doch eh alle. Ich will nicht, dass du deine Bilder, die du mit deiner Maschine malst, veröffentlichst! Denkst du wir finden es schön die ganze Zeit beobachtet zu werden? Du bist doch auch anders. Immer rennst du mit deiner Maschine da rum und kniest dich hin und läufst um uns rum. Dich kann man auch für verrückt halten. Alle Menschen gucken schon die ganze Zeit in deine Richtung! Soll ich dir mal zeigen, wie das aussieht?“ Er schnappte sich die Kamera des Fotografen. Der war zu geschockt, um zu reagieren. Schon wurde er zu Boden geschubst. Der junge Mann lief mit der Kamera zurück zu seinem Koffer und seiner Gruppe, und drängte sich in deren Mitte.
Verfall
“Holzpüppchen dreh dich, Holzpüppchen dreh dich.” Sagt das kleine sibirische Mädchen, welches gerade im Begriff ist, ihre Puppe zu lynchen. Plötzlich kauert sich das Mädchen nieder, Risse ziehen sich über die Wände. Der Putz bröckelt von der Decke und fällt hart zu Boden. Jetzt ein Knall, ein lauter Schrei, geradezu markerschütternd. Das Gebäude sackt erst einen halben Meter ab, dann verschwindet es unter lautem Getöse im Boden.
Junis wacht vor Schrecken auf, die Luft liegt voll Staub, es ist komplett dunkel und von drüben kann er seine Mutter auf Arabisch panisch rufen hören: “Zu Hülfe! Zu Hülfe!” Als es ihm gelingt seine Augen zu öffnen blickt er auf ein Loch. Ja, fast wäre sein Bett aus dem Zimmer gefallen, die Wand fehlt komplett. Er springt auf und rennt zur Wohnungstür, dort waren sie alle versammelt. Das Gebäude fängt an heftig zu wanken, er wird gepackt und sie rennen die Treppen hinab. Weit über ihnen können sie Stimmen anderer Bewohner hören. Er blickt in die geöffneten Türen, verlassene Wohnungen, ein Hamas-Waffenlager, eine Familie, welche ihr Hab und Gut zusammensucht und in Eile verlassene Callcenter. Fast haben sie den Haupteingang erreicht, da erleuchtet der Nachthimmel. Für einen Moment ist es plötzlich Tag, dann hört Junis von oben einen weiteren Schlag, gefolgt von ohrenbetäubendem Getöse. Stille.
Das Mädchen liegt da wie tot, begraben von Schutt und Gestein. Es ist bitterkalt, kein Licht, kein gar Nichts. Stille. Er sieht sie vor sich, eine Frau kommt keuchend ins Zimmer, ihr Blick fixiert ihn für einige Sekunden, fast als könnte sie ihn sehen. Dann erblickt sie das Mädchen wie es da liegt und bricht neben ihm zusammen.
Junis erwacht wieder, fasst sich an den Kopf und blickt die Umstehenden an. Viele haben Wunden, sind komplett verstaubt und einem steckt ein iPhone im Kopf. Das Feuer lässt sie wie Geister aussehen. Sein Kopf dröhnt, als wäre er in einer mit alkoholischem Dampf gefüllten Höhle. Alles wirbelt wie wild umher. Plötzlich springen die Gestalten neben ihm auf. Sie tanzen ums Feuer und skandieren: „Feuerkreis, Feuerkreis dreh dich”. Ihn ergreift wieder die Schwäche und er verfällt seinem Fieber.
Foto 1 (Die Dystopie des Amazonas): https://www.worldpressphoto.org/getmedia/4e5e1bb0-2f5b-4c5b-95b9-93b310193f1a/WPP_2022Contest_South-America_LTP_Lalo-de-Almeida_NAD.jpg?maxsidesize=1920&resizemode=force Foto 2 (Wenn gefrorenes Land brennt): https://www.worldpressphoto.org/getmedia/22fcc617-3195-4966-bb61-8053f9b10c34/WPP_2022Contest_Europe_STO_Nanna-Heitman_GJ.jpg?maxsidesize=1920&resizemode=force Foto 3 (Palästinensische Kinder in Gaza): https://www.worldpressphoto.org/getmedia/1b9934af-68cd-4318-b9af-670a617cd21c/WPP_2022Contest_Asia_SIN_Fatima-Shbair.jpg?maxsidesize=1920&resizemode=force